Neubrandenburg/ Penzlin 2021

Wissenschaftliche Fachexkursion auf slawischen Spuren in der Kulturlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns | Institut für Slawistik | Universität Greifswald | Modul Interkulturelle Kompetenzen | Wintersemester 2021/ 2022

Im Wintersemester 2021/2022 näherten wir uns aus verschiedenen Perspektiven den Spuren slawischer Geschichte in Mecklenburg-Vorpommern. Begleitet von Museumsfachleuten, einer Archäologin sowie einer Mediengestalterin und Wissenschaftler*innen verschiedener Fachrichtungen wurden wir im Treptower Tor, im Voßhaus-Penzlin und in und um die Alte Burg Penzlin fündig. Herzlich willkommen zur Präsentation unserer Sichtweisen und Ergebnisse.

Exkursionsbericht | Ute Marggraff

Um praktische Einblicke in komplexe Sachverhalte ihrer Studienfächer zu gewinnen und Erfahrungen in der Öffentlichkeitsarbeit zu sammeln, tauschen Studierende und Lehrende am Institut für Slawistik der Universität Greifswald von Zeit zu Zeit den Hörsaal gegen die Kulturlandschaft direkt vor der Tür ihrer Alma Mater. Auf Exkursionen nach Usedom und Rügen mit dem Burgwall von Kap Arkona folgte im Wintersemester 2021/2022 eine Spurensuche im Raum Neubrandenburg und Penzlin/Waren. Die Exkursion, obligatorischer Bestandteil des Moduls Interkulturelle Kommunikation, ging der Frage nach, weshalb sich die Kulturen Zentral- und Ostmitteleuropas über Jahrhunderte hinweg von Zeit zu Zeit verstärkt für die slawische Besiedlung Mecklenburg-Vorpommerns interessiert haben. Zu denjenigen, die in den Sog des Nordens gerieten, zählten im 18. und 19. Jahrhundert Dichter, Maler, Ethnologen und Politiker, die wie Adam Mickiewicz und Jan Potocki, aber auch František Palacký und Ján Kollár. Sie nahmen die einst hier beheimateten Lutizen und Obotriten in den Blick und suchten nach Sinnstiftungen für ihre eigene Gegenwart.    

Um das vertiefte Interesse für Slawisches im 18. und 19. Jahrhundert nachvollziehen zu können, widmete sich das Begleitseminar zunächst der Geschichte der slawischen Stämme im Nordosten Deutschlands. Sich ihre Namen zu merken und die wechselvollen Beziehungen zu sächsischen, dänischen, böhmischen und polnischen Herrschern zu verstehen, war ebenso schwierig, wie die dabei aufgeworfenen Fragen zu bändigen. Spontan bildeten sich in  den ersten gemeinsamen Sitzungen drei Gruppen. Individuelle Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Studierenden konnten so in die Erarbeitung konkreter Themen einfliessen. Eine echte Herausforderung, dabei auch noch filmische Aufnahmen zu planen. Hier klinkte sich mit Unterstützung des Teams update Lehre unserer Univesität die Mediengestalterin Anja Lück-Lewerenz der Greifswalder Firma una(h)rt design ein. Neben technischen Informationen gab sie Anregungen für das Filmen an für für die einzelnen Themen relevanten Orten. Weiteres fachliches Input erhielten die Studierenden durch Impulsreferate von Kommiliton*innen, gemeinsame Diskussionen im Seminar und Konsultationen mit der Lehrenden und später auch den Partner*innen vor Ort.  

Am 13.11.2021 war es dann so weit. Gut vorbereitet, mit dem Notwendigsten an Technik ausgerüstet, und irgendwie aufgeregt, stieg die Gruppe in den beheizten Bus, der an diesem frühen Morgen  im November am Universitätshauptgebäude auf sie wartete. 

Vorbei an wichtigen Wegmarken der frühen slawischen Geschichte näherten sich die Teilnehmenden der Stadt an der Tollense, die im 13. Jahrhundert im Einzugsgebiet westslawischer Stämme entstanden war.   

In der Welt der Archäologie | Treptower Tor | Neubrandenburg

Vom Busbahnhof führte der Weg über den Wall mit seiner gut erhaltenen Stadtmauer und den Wiekhäusern direkt zum Treptower Tor. Die Außenstelle des Neubrandenburger Regionalmuseums beherbergt eine kleine archäologische Sammlung und bietet sachkundige Informationen zu den slawischen Stämmen, die im Ergebnis komplexer Siedlungsvorgänge und der sog. Völkerwanderung einst in diesen Landstrich kamen. Während das Haupthaus im sanierten und modern ausgestatteten Dominikanerkloster seine Heimstatt fand, liegt die Zukunft des Treptower Tors im Ungewissen. Denkmalsschutz und Barrierefreiheit tragen seit längerem einen unlösbar scheinenden Konflikt aus. Schade, denn einst gabe es hier eine exzellent gegliederte und gut aufbereitete Ausstellung. Einzelnen Besiedlungszeiträumen war je eine Etage zugeordnet. 

Nun ist die Ausstellungsfläche im Grund auf einen Raum reduziert worden. Der sog. Doppelkopf von der Fischerinsel, die gelungene Nachbildung eines archäologischen Fundes aus den 1970er Jahren und einige wenige Schautafeln und Grabungsstücke, unter ihnen das Skelett eines Kindes, drängen sich dicht an dicht. Im Eingangsbereich zieht eine in orangefarbene Zeittafel die Blicke der Besucher auf sich. Ob sie einen vollwertigen Ersatz bieten kann, bleibt jedoch fraglich. Wissen und Eindrücke, die man an sich erlaufen kann, sind nachhaltiger und prägen sich stärker ein.

Ein Glück, dass Wiebke Schrader die Gruppe begrüßte und am Beispiel der Lutizen die slawische Besiedlung und Geschichte des Raumes erläuterte. Landschaftsfotografien sind zu einer Karte montiert. Sie zeigt aus Grabungsberichten und anderen Quellen bekannte Inseln.  Zu ihnen zählen der Hanfwerder, der Kietzwerder und die Fischerinsel, von der die bereits erwähnte zweigesichtige Holzstatue stammt. Von einigen Grabungsstücken erhoffte man lange Zeit, Auskünfte über das sagenhafte Rethra zu erhalten, das Thietmar von Merseburg in seiner Chronik im 11. Jahrhundert beschrieben hatte. Bis heute suchen Archäologen, Historiker und andere Interessierte vergeblich nach dem Heiligtum der Lutizen.    

Rethra soll 1068 durch sächsisch-ottonische Truppen unter Burchardt von Halberstadt zerstört worden sein. Bis dahin hätte sich der westslawische Stammesverband aus Angst vor Vereinnahmung und Modernisierung erfolgreich den Missionierungsversuchen der Bistümer Havelberg und Brandenburg widersetzt.

Mit dem Bau der Vierrademühle in Neubrandenburg stieg der Wasserspiegel in der Lieps an. Bis heute lagern slawische Siedlungsreste zum Teil im Verborgenen. Atlantis und Vineta lassen grüßen. Darüber und über die sog. Prillwitzer Idole fachsimpelten die Studierenden mit der Archäologin auf Augenhöhe. Die Kultobjekte aus Bronze waren 1768 am Ufer der Lieps, also ganz in der Nähe des Museums, entdeckt worden. Man glaubte damals, es mit altertümlichen Kultobjekten zu tun zu haben, die slawische Naturgötter zeigten. In Wirklichkeit entstammten sie der Phantasie des 18. Jahrhunderts. Mecklenburg bildete diesbezüglich keine Ausnahme, wie Hinweise der Slawist*innen auf die Lieder Ossians (ab 1760) und die Königin- und Grünberger- Handschrift (ab 1817) belegten. Die Bronzefiguren erregten Aufsehen. Obwohl der Tourismus damals noch in den Anfängen lag, kamen Gebildete von überall her, um die Funde persönlich in Augenschein zu nehmen und darüber zu berichten. 

Einige Studierende interessierten sich für den Nachhall der Prillwitzer Idole in der polnischen und tschechischen Kulturgeschichte. Andere fragten nach ihrem Weiterleben in Literatur und Kunst, das bis heute anhält.

An deutsch-slawischen Wechselverhältnissen interessiert, fasste Zbigniew Zdanowicz  den berühmten polnischen Autor und Weltreisenden Jan Potocki ins Auge, der in Neustrelitz, Penzlin und Ratzeburg weilte. Noch während der Exkursion nahm sich der  Student fest vor, die Reisetagebücher des Polen zu sichten und zu prüfen, welche Bedeutung der Verfasser der "Handschrift von Saragossa" Neubrandenburg und Penzlin zukommen ließ. Spuren finden sich auch in Abhandlungen anderer slawischer Dichter und Vertreter nationaler Erweckungsbewegungen, die im 18. und 19. Jh. hier vor Ort waren.   

Nicht wie es einmal war, sondern was von alledem heute noch bedeutsam ist, dafür interessierten sich die Greifswalder besonders. Doch nicht nur ihnen, auch Wiebke  Schrader bereitete ein solcher Ansatz und das Gespräch darüber offensichtlich Freude. Bereitwillig gab sie ihren Lektürehintergrund preis, informierte über wichtige kulturelle, soziale und politische Aspekte des Themas und stand den Studierenden auch später als Ansprechpartnerin zur Verfügung.

Antik - Modern: Slawische und deutsche Abenteurer auf Odysseus Spuren | Voss Haus | Penzlin

Während eine der Fotograf*innen im Museum an der Treppe im asiatischen Stil wartete, um ein Gruppenbild aufzunehmen, platzierten sich die Exkursionsteilnehmer*innen an der modernen Treppe, die Architekt Peters für den 2019 eröffneten Museumsbau entworfen hat. Umwege schärfen die Sinne, nicht nur in Lehre und Wissenschaft, auch auf Exkursionen. Im weiteren Verlauf sorgte der Kontrast von Antike und Moderne immer wieder für spannende Momente und bot jede Menge Diskussionsstoff.           

Vor allem, nachdem alle Teilnehmenden in den Olymp, einen speziell für größere Veranstaltungen, Vorträge von Wissenschaftler*innen und Sonderausstellungen gedachten Saal eingezogen waren.  

Boreas, der Nordwind in Obotritiens Fluren

Als Kuratorin Andrea Rudolph und Exkursionsleiterin Ute Marggraff von ihrer Zusammenarbeit erzählten, liess sich der Enthusiasmus erahnen, mit dem sie sich der vielschichtigen Mecklenburgischen und Vorpommerschen Kulturlandschaft aus der vergleichender Perspektive ihrer Fächer widmen.  

Mit  J.H. Vossens "Der Winter" (1771) lenkten Sie die Aufmerksamkeit der Gruppe auf einen anspruchsvoller Sturm-und Drang-Text, der das Interesse des Dichters an Slawischem inszeniert, wenn er den "aus den Höhlen Grönlands" hervorbrechenden Winter"  veranlasst, "den sanften Lyäus" in die Flucht zu schlagen, der "Obotritiens Flur herbere Trauben bräunt". Patricia Berger brachte das Gedicht zusammen mit Andrea Rudolph zum Klingen. Das angerissene Thema hat viele Komponenten, doch die Gruppe wollte mehr über die Funktion slawischer Identitätskonstrukte in Mecklenburg-Vorpommern in der Zeit zwischen Klassik und Romantik erfahren.

Warum identifizierte Voß sich neben der Antike mit Mecklenburgs slawischer Frühgeschichte? Wieso brachte eine Region, wenn auch zeitverschoben, auf kleinstem Raum zwei Persönlichkeiten hervor, die Antikes zu ihrem Lebenswerk machten? Voß, der mit einem innovativem Dichtungskonzept die "Ilias" und die "Odyssee" ins Deutsche übertrug, ohne sie der Zielkultur platt anzuverwandeln und Heinrich Schliemann, der den Nachweis für die Existenz Trojas, so zumindest bis vor Kurzem die wissenschaftliche Lehrmeinung, geliefert haben soll. 

 

Zeitmode und Standesbewusstsein treffen Slawisches | Alte Burg Penzlin und Umgebung

Eine Fußwanderung gab den Studierenden Gelegenheit, durchzuatmen und die  Eindrücke vom Workshop und Ausstellungsrundgang im Voß-Haus Revue passieren zu  lassen. Über eine kleine Treppe und einen schmalen Weg  gelangen sie zur Rückseite der Alten Burg mit slawischem Burgwall und der Neuen Burg mit ihrer Dachgestaltung im Tudorstil. Die Aussichtsplattform gleich daneben erlaubte einen Blick auf das Panorama der Stadt mit ihren kleinen bunten Häuschen, der Kirche und dem direkt danaben stehenden Voßmuseum. Rechter Hand dagegen blieb der nun schon exkursionsgeschulte Blick an der Renaissancefassade auf der Rückseite der Alten Burg hängen.

Wie hier stießen die Studierenden an vielen Orten in Penzlin auf Versuche, Antikes oder altehrwürdig Daherkommendes in späterer Zeit zu zitieren. Im 18. und 19. Jh. trat an die Stelle der Antike die "eigene" konkrete Geschichte des Landstrichs im Einzugsgebiet von Tollense und Müritz. Nicht nur die pommerschen Fürsten, auch mecklenburgische Herzöge waren stolz auf ihre slawischen Wurzeln.

Ein konkretes Beispiel liefert Joseph von Maltzan (1735-1805). Er plante in Penzlin einen englischen Garten, für den neben Antikem auch slawische Artefakte vorgesehen waren. Zu diesen zählte ein rauchender Radegast. Einer Zeittendenz folgend, ließ sich der  standesbewußte Adlige, der beim Prinzen Heinrich von Preußen gedient hatte, später auf freiem Feld zwischen Penzlin und Werder unter einer Pyramide beisetzen.

Sein Porträt nahmen die Teilnehmenden im Rittersaal, wenige Meter entfernt vom Bild seines Vorfahren, Joachim von Maltzan, in Augenschein. An der Stirnseite des Saales dagegen konnten sie rechter Hand ein Porträt seines Sohnes erkennen. Ferdinand von Maltzan, Freiherr zu Wartenberg hatte 1816 die Leibeigenschaft aufgehoben, woran bis heute im Ort ein Obelisk erinnert.

 

Wie wichtig Generationenabfolgen und die biografische Selbstkonstruktion mit Hilfe des Slawischen waren, erfuhren die Studierenden, nachdem sie im Rittersaal Platz genommen hatten. Neben der stilisierten Tafel, die an manchen Tagen für Trauungen genutzt wird, und einem Kamin, Feuerstellen sind in der Mythologie traditionell mit dem Kult der Ahnen verbunden, symbolisiert eine um 1900 als Deckenmalerei entstandene Weinrebe eine feste Geschlechterabfolge. 

Ihre Alteingesessenheit, in Szene gesetzt durch slawische Mythisierungen der Landschaft, brachten die Maltzans gegen eine erstarkende bürgerlich-selbstbewußte Stadt Penzlin und gegen den Hochadel des Schweriner Herzogs zur Geltung.

Hexenproben: Zwischen Macht und Wahnsinn

Auf eine Waage anderer Art trafen die Studierenden im Untergeschoss der Burg, in der sog. Folterkammer. Eine Waage als Teil von Hexenproben, denen alle unterworfen wurden, die man beschuldigte, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.

Über eine steile Treppe ging es hinunter, vorbei an Fallbeschreibungen, Ergebnis akribischer Recherchen in den Archiven der Juristischen Fakultäten in Rostock und Greifswald. Dort lagern die in Deutsch mit niederdeutschen Einsprengseln der Beklagten abgefassten Protokolle bis heute. Sie legen Zeugnis davon ab, was Menschen unterschiedlicher Stände ereilte, wenn sie in Haft genommen und ihnen fiktive Geständnisse abgepresst wurden.  

Wie real der von Heinrich Kramer im sog. Hexenhammer, einem 1486 erstmalig in Speyer gedruckten Traktat,  in die Welt gesetzte kumulative Hexenbegriff war, belegen in die Wand eingelassene Nischen, die mit dicken Eichentüren verschlossen wurden.

Über ihnen sind etwas hervorstehend Steine eingelassen. Sie beweisen, man traute den Inhaftierten zu, die schweren Türen mit Hilfe teuflischer Kräfte aus den Angeln zu heben zu können. Auch wollte man so verhindern, dass die Beklagten den Erdboden berührten, um Kontakt zu chthonischen Kräften aufzunehmen.  

 

In Wirklichkeit waren die Gründe für die Verfolgungen, die es in diesem Ausmaß in Osteuropa nicht gegeben hat, vielfältiger Art. Das war den Ausführungen der Kuratorin ebenso zu entnehmen wie den Texten, die später in literatur- und kulturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen am Institut besprochen wurden…        

Es ist nicht ganz einfach, Menschen davon zu überzeugen, dass Hexenverfolgungen nicht mit einem angeblich "finsteren" Mittelalter verbunden sind, sondern Ergebnis eines Rechtsfortschrittes, der auf reale Beweise, sogenannte handhabbare Tatbestände, Wert legte. An vielen Stellen gab es Parallelen und Verbindungen zu heute, mehr, als es zu Beginn der Exkursion schien… 

Gegenpole zum Schubladendenken oder: Wir bleiben dran!

Die Exkursion ermöglichte differenzierte Einblicke in die hybride Kulturlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns aus slawistischer Perspektive. Die exzellenten Führungen, selbständigen Rundgänge, Workshops, Arbeitssitzungen und Diskussionen sorgten für spannende Momente und warfen immer neue Fragen auf. Nicht alles konnte zu Ende gedacht werden. Manches wird einzelne Exkursionsteilnehmer*innen noch lange beschäftigen. Doch eines scheint sicher. Auch damals gab es Notzeiten, Konflikte und Kriege, zugleich lebte man auch vom Kulturtransfer und vom wertschätzenden Austausch miteinander. In einer Zeit, in der sich Menschen und Staaten abschotten, ist es wichtig, daran zu erinnern.

 

Besonderer Dank an

Regionalmuseum Neubrandenburg | Voß Haus Penzlin | Museum Alte Burg Penzlin