Goethe, Puschkin und kein Ende. Puschkinjubiläum im Goethejahr nicht spurlos an Greifswald vorübergegangen

Rezension zu Moritz Sostmanns Aufführung des "Ewgeni Onegin" im Greifswalder TIP am 9.11.1999

Für Jewgeni Onegin, den Helden des gleichnamigen Versromans von A. S. Puschkin gab es keine Herausforderungen mehr, wohl aber für Moritz Sostmann, als er nach dieser klassischen Vorlage griff, um sie auf der Studiobühne im Greifswalder Penguin auszureizen. Kein leichtes Unterfangen, sich im Goethejahr auch noch an den in Deutschland relativ unbekannten russischen Klassiker Puschkin heranzuwagen. Zwar ist Puschkin durchaus Goethe vergleichbar, aber gerade der Versroman "Jewgeni Onegin" - so zumindest die einhellige Meinung russischer und deutscher Spezialisten - eignet sich nicht im klassischen Sinne für eine Aufführung im Theater. Wohl auch deshalb ist Puschkins Werk bis heute kaum im Theater aufgeführt worden. Bekannt sind fast ausschließlich Aufführungen der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Oper Tschaikowskis und ihre Verfilmungen.

 

Ausgewählt für die Inszenierung dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte, in der sich die Hauptakteure, der Individualist und Tausendsassa Jewgeni, und die ihn liebende romantisch veranlagte Tatjana zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben zurückweisen, wurden sieben Kapitel des insgesamt acht umfassenden Versromans. Obwohl Moritz Sostmann das Stück schon vor einiger Zeit in Halle, Potsdam und Berlin aufgeführt hatte, war ihm in der Stadt am Bodden noch immer die Begeisterung anzumerken, welche die Begegnung mit Puschkins Text in der spritzigen Übersetzung von Rolf-Dietrich Keil ausgelöst und und ihn zu einfallsreichen Umsetzungen inspiriert hatte.

Er betrat die Bühne, in einem langen, an russische Bauernkleidung erinnernden weißen Leinenhemd, mit einem spielenden Keyboard auf der Schulter, was bei den überaus zahlreich erschienenen, etwas verblüfften Greifswalder Puschkinenthusiasten Assoziationen an einen flapsigen Rocker aus dem zwanzigsten Jahrhundert auslöste. Auch das Hemd mit dem eigenhändig aufgetragenen Etikett der in Russland allseits bekannten Zigarettenmarke "Belomorkanal" wollte zur Handlung zunächst einmal gar nicht so recht passen. Einziger Bezugspunkt zum Stück - die auf der Verpackung abgebildete Onega, jener Fluss, der Puschkin einst zur Namensgebung für seinen Helden inspiriert hatte. Zugleich jedoch wurde damit bereits das reibungsvolle Gegen- und Miteinander unterschiedlicher Welt- und Textmodelle sichtbar, welches die überaus zahlreich erschienen Zuschauer im weiteren Verlauf des Abends noch mehrfach herausfordern und auf anregende Weise irritieren sollte.

 

Glücklicherweise überließ Moritz Sostmann den Zuschauer dabei nicht sich selbst. Von Beginn an konnte das Publikum an seiner spannungsreichen Neuentdeckung des Puschkinschen Textes teilhaben. Kapitelüberschriften und die dazugehörigen Motti, wurden während des Spiels im Bühnenhintergrund angeheftet, begleitet von Kommentaren, die auf ein ganz persönliches Verhältnis des Schauspielers zu Puschkin und zu Russland heute schließen ließen. Überhaupt führte er den Zuschauer mit, ohne ihn dabei zu gängeln. Die Hürde der Verssprache, welche, wie Spezialisten meinen, eine breite Rezeption des Textes in Deutschland verhindert hat, wurde dadurch genommen, dass der Schauspieler gleichsam seine eigenen Lernleistungen parodierend, mehrere Anläufe nahm um den Zuschauer an den Versrhythmus zu "gewöhnen". Nicht nur die suggestive Klangwirkung der Verssprache wurde dem Zuschauer spielerisch nahe gebracht, auch sonst hielt Sostmann das Publikum fast ununterbrochen in Atem, indem er die verschiedenen inhaltlichen und stilistischen Ebenen des von Anspielungen und Spötteleien übersäten Puschkinschen Textes ausfindig machte und mit einfachen aber in ihrer Wirkung wohl durchdachten theatralischen Mitteln und Möglichkeiten umsetzte.

 

Dass er sein Handwerk beherrscht, stellte der ohne aufwendiges Bühnenbild auskommende Schauspieler immer wieder überaus erfolgreich unter Beweis. Gerade noch in der Rolle des plaudernden, manchmal tiefgründig reflektierenden Erzählers befindlich, schlüpfte er von Zeit zu Zeit u.a. in die Gestalten Jewgenis und seiner Geliebten Tatjana. Die Gespräche zwischen dem romantisch veranlagten göttingischen Jüngling Lenski und Jewgeni werden als Fingerspieldialoge - der Schauspieler formte seine Finger gekonnt zu sprechenden Handpuppen, die Erinnerungen an die Muppetshow von Jim Henson wecken - wiedergegeben.

Ganz gleich, ob er als die "Handlung" verfremdender Erzähler, als Jewgeni, als Lenski, als Tatjana oder gar als Moritz Sostmann in seinem Verhältnis zu "Puschkin" brillierte, immer machte er dem Zuschauer, der auf Vergegenwärtigung aus war, requisitäre Angebote, um dann sofort phantasievoll darüber hinwegzuschreiten. So, beispielsweise, als ein überdimensionierter von russischen Trachtenpuppen her bekannter Zopf der Tatjana eben nicht angeheftet, sondern beiseite geworfen wurde oder als das Keyboard, das musikalische Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln lieferte, zur Tanzpartnerin Onegins transformierte.

Rundum ein gelungenes Solokunststück, das sowohl bei den anwesenden Schülerinnen und Schülern als auch Studierenden ankam, die in dem sich anschließenden Gespräch mit dem Schauspieler gestanden, anfänglich mit der Lektüre des Versromans Schwierigkeiten gehabt zu haben. Und nicht nur sie, auch die mit Puschkins für das 19. Jahrhundert unkonventioneller Position im von Schischkow, dem Hüter des altkirchenslawischen Wortschatzes, angezettelten Sprachenstreit beschäftigten Slawistinnen und Slawisten kamen auf ihre Kosten.

Schauspieler und Publikum trennten sich nach einer angeregten und anregenden Diskussion in der einhelligen Meinung, einem unvergesslichen Theatererlebnis beigewohnt zu haben.

 

Christoph Rosenbaum / Ute Scholz