Erinnerung an die Begegnung mit N. Tolstaja in Greifswald und eine Lesung in der Stadtbibliothek am 18. Juni 2002

Alles begann relativ unerwartet mit einem kurzen Zuruf in der Pause zwischen zwei Lehrveranstaltungen.Tat'jana Pavlovna, unsere Lektoratsleiterin, bat mich, die russische Autorin Natalija Tolstaja am frühen Nachmittag vom Greifswalder Bahnhof abzuholen und sie bis zur abendlichen Lesung in der Stadtbibliothek zu betreuen. Zwar war der Vorschlag nicht ungewöhnlich, am Institut für Slawistik sind von Zeit zu Zeit berühmte Gäste zu betreuen. Aber gerade deshalb war ich ein wenig aufgeregt, denn es ist nicht immer leicht, die geheimsten Wünsche polnischer oder russischer Autorinnen und Autoren zu erraten und dazu beizutragen, sie zu erfüllen.

 

Der einfahrende Zug zerstreute jedoch meine Zweifel. Schon nach wenigen Sekunden war klar, ich hatte es mit einer offenherzigen und kontaktfreudigen Frau zu tun, die neugierig darauf war, Greifswald und das Leben der Menschen hier im Norden Deutschlands kennen zu lernen. Als sie erfuhr, dass ich mehrere Jahre in Petersburg gelebt hatte, waren wir sofort mitten im Gespräch. Unsere Münder standen nicht mehr still. Nicht erst später, als wir schon im Cafe draußen in Wiek saßen, kam es mir vor, als hätte ich mich mit einer guten Freundin zum Nachmittagstee getroffen. Neuigkeiten über die Petersburger Universität und gemeinsame Bekannte wurden ebenso ausgetauscht wie wichtige Ereignisse des literarischen Lebens in Russland und Deutschland. Obwohl der einfache "Klatsch" zweier mit der Petersburger Universität verbundener Menschen und Literarisches längst nicht in allen Fällen parallel liefen, verbanden sie sich auf unerklärliche Weise miteinander. Offenherzig teilte Natalija Tolstaja mit, dass sie zwar Čechovs Erzählungen möge, aber mit seinen Dramen nichts anzufangen wisse... Ein Spaziergang führte uns direkt zum Bodden, der in der Frühlingssonne blinkte. Am Wasser sonnten sich Mütter mit ihren Kindern und alte Leute. Als wir zurückgingen, schauten sie uns neugierig nach. N. Tolstajas Augen blitzten beim Sprechen immer wieder. Mit allen Sinnen suchte sie die ihr fremde und doch bekannte Welt intensiv aufzunehmen. Distanz zu halten, das war nicht ihre Sache.

 

Auf dem Rückweg war sie ein wenig ernster als vorher... Vielleicht hatte sie das Meer an Schweden erinnert, wo sie einst zu schreiben begann. Auch sprach sie von den Schwierigkeiten der Menschen in Russland den Alltag zu bewältigen, erkundigte sich nach den Folgen der Wende für die Einwohner Greifswalds. Ich gewann den Eindruck, dass es gerade diese Prosa des Alltags mit ihren Banalitäten und kleinen Grausamkeiten war, die sie zum Schreiben mit Sarkasmus, aber auch Witz und Humor, eben einem čechovschen Lachen unter Tränen getrieben haben.

 

Wir fuhren zurück ins Zentrum und schon waren wir mit den deutschen Alltagsproblemen in Form des wenig einladende Korridors im Gästehaus in der Bachstraße konfrontiert. Mir war die Vorstellung ein wenig peinlich, die bekannte Autorin müsse den Korridor entlang in den Keller laufen, um zu duschen. Sie jedoch beteuert, das würde ihr überhaupt nichts ausmachen, sie sei ja so froh, nach Spaziergang und Reise einen kalten Guss nehmen zu können.

 

Dann die Lesung im sich nach und nach füllenden Gewölbekeller der Stadtbibliothek. Aus dem Erdgeschoss mussten weitere Stühle herbeigebracht werden. Um die Wartezeit zu überbrücken schauen wir uns das Haus genauer an. An einem ehrwürdigen alten Stuhl wurde beschlossen, ein paar Fotos zu machen.

 

Gut sah Natalija Tolstaja aus wie sie so dastand von mächtigem Wuchs, mit ihren schwarzen Haaren und der kontrastierenden rotgepunkteten Bluse, die aufmerksamen Augen immer weit geöffnet und lächelnd. N. Tolstaja war keinen Augenblick befangen und zog die umstehenden Studentinnen sofort ins Gespräch. Die Beteiligten hatten keine Chance Unsicherheit aufkommen zu lassen.

 

Dann endlich begann die Lesung. Tolstaja setzte sich an den Tisch. Sie las aus ihrem Sammelband „Dvoe", fragt immer wieder nach, welche Erzählungen das Publikum hören wollte. Geduldig wartet sie, wenn die deutschen Übersetzungen vorgetragen wurden. Ihre urwüchsige Fabulierlust, gepaart mit einer präzisen Beobachtungsgabe und fast hemmungsloser Direktheit zogen die Zuhörer in den Bann. Von Zeit zu Zeit ging ein leises Lächeln durch die Reihen, wenn wieder einmal ein Verweis oder eine kleine Anspielung auf die russische oder deutsche Mentalität entdeckt waren, mit denen Tolstajas Texte gespickt sind.

 

Die Widmung, die sie mir am Ende reichlich überlegend in das schmale blaue Bändchen der deutschen Übersetzungen ihrer Texte schrieb, waren eine schöne Gabe am Ende dieses erlebnisreichen und interessanten Tages, den ich zusammen mit dieser neugierigen, offenherzigen und kontaktfreudigen Frau verbringen konnte. Fast kam es mir vor, als hätten wir während unserer Gespräche eine stattliche Anzahl neuer Erzählungen verfasst....

 

Ute Scholz

 

Übersetzungen einzelner Erzählungen von N. Tolstaja in deutscher Sprache sind erschienen in: Natalija Tolstaja. Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Studierenden unter der Leitung von Raija Hauck. Greifswald 2002.