Ukraine Kyjv / L’viv 2019

Ukraine-Exkursion vom 19.-26. Juli 2019 im Rahmen des Seminars „Mörderische Identitäten“ (WiSe 2018/19)

Exkursionsverlauf:

19.07.19

Anreise nach Kyiv und abends im Szeneviertel Podil: Filmabend mit Stanislav Menzelevs’kyj (Staatl. Oleksandr-Dovženko-Filmarchiv Kyiv). Gezeigt wurde der Dokumentarfilm von Michail Kaufman „Im Frühling“ (1928), der die ukrainische Hauptstadt ein knappes Jahrzehnt nach dem Ende des Bürgerkrieges, zum Zeitpunkt der Konsolidierung der Sowjetmacht und der ersten Ergebnisse ihrer Regierung darstellt. Die zahlreichen Aufnahmen der zentralen Plätze und Straßen sollten eine Kontrastfolie für die kommenden Führungen durch die Dnipro-Metropole bieten, die im Zweiten Weltkrieg und vor allem in der Besatzungszeit stark gelitten hat. Die Teilnehmer*innen sollten so für die wechselvolle Stadtgeschichte der leidgeprüften ukrainischen Hauptstadt, insbesondere die Ziele und den Charakter des sowjetischen Projekts sensibilisiert werden.

20.07.19

Führung (I) durch die Kyiver Innenstadt mit besonderem Akzent auf den Verlauf der Euromaidan-Revolution mit Dr. Vasyl Cherepanyn (Leiter des Zentrums für visuelle Kultur). Er berichtete nicht nur als Zeitzeuge und Aktivist, sondern auch als jemand, der einen kritischen Blick auf die Schattenseiten der Revolution werfen kann. Zu ihnen gehörte der Umgang mit den Antagonisten aus dem Lager des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch sowie mit dem sozialistischen Erbe der Ukraine, insbesondere mit der sozialistischen Architektur und Ästhetik, deren Spuren im Zuge der sog. „Dekommunisierung“ zunehmend beseitigt werden. Die Wanderung, die am Hauptprospekt der Stadt – dem Majdan-Platz begann, führte am Regierungsviertel und dem orthodoxen Heiligtum des Lavra-Höhlenklosters vorbei zu einem der zentralen Schauplätze der sowjetischen Stadtgeschichte – dem Denkmal an die Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Führung (II) mit Kateryna Mishchenko (Übersetzerin/Herausgeberin) an die Freizeitplätze (Strände am Dnipro-Ufer) und Orte des Konsums, und die Geschichte der Gegenwart so aus dieser Perspektive erzählte. Einen besonderen Schwerpunkt bildete auch die Situation der LGBTQ-Community und die Genderproblematik in der Ukraine.

Der intensive Tag endete mit einer Schifffahrt auf dem Dnipro, die nochmal die Dimensionen der Stadt und ihre topographischen Besonderheiten veranschaulichen konnte.

21.07.19

Literarische Stadtführung mit Dr. Vasyl’ Lozyns’kyj (Dichter/ Übersetzer). Er thematisierte die Spiegelung der dramatischen Geschichte der Ukraine in der Literatur und Kunst. Mit Zitaten der Vertreter der ukrainischen, russischen und jüdischen Moderne, die in der Stadt lebten und wirkten, entstand ein beindruckendes Panorama der multikulturellen Kulturproduktion der Stadt, die selbst unter den Umständen der sowjetischen Zensur nicht versiegte und sogar raffinierte äsopische Formen der künstlerischen Kommunikation entwickelte. Die Führung endete mit einem Besuch an der Erschießungsstätte Babij Jar, an der 1941 Kyiver Juden vernichtet wurden.

Abends: Besuch im Atelier von Jevhenija Bilorousets (Fotokünstlerin/Autorin). Die Vorstellung ihrer Fotodokumentationen über die Lebensbedingungen der Bergarbeiter im aktuellen Kriegsgebiet und ihre Arbeiten über die Bewohner der abrissfertigen Häuser in Kyiv führten eindrücklich vor Augen, dass Kunst nicht nur eine symbolische Handlung ist, sondern auch sehr praktische Folgen haben kann. Der Besuch bei Frau Bilorousets, der in einem privaten Rahmen stattfand, und einen intimen Einblick in die Arbeits- und Lebensweise einer weltweit anerkannten Künstlerin vermittelte, war ein Höhepunkt des Kyiver Teils der Reise.

22.07.19

Weiterreise ins politische, kulturelle und administrative Zentrum der Westukraine:  L’viv (Lemberg). Nachmittagsspaziergang durch L`viv mit Jurko Prohas’ko (Germanist/ Übersetzer): topographische und kulturelle Entwicklungsperioden und einem Einblick in die Stadtgeschichte.

23.07.19

Besuch der privaten Katholischen Universität L’viv (UKU) – die es in den letzten zehn Jahren zu den fünfbesten Universitäten des Landes geschafft hat, und zu einem gefragten Partner für internationale Kooperationen geworden ist. Nach einem kurzen Rundgang durch die Universität mit dem Studenten Jurij Romaniv (Medien/Kommunikation) hörten die Reiseteilnehmer*innen einen Vortrag von Prof. Oksana Mikheieva, einer führenden ukrainischen Soziologin, über ihre Forschungsprojekte im Kriegsgebiet. Prof. Mikheieva, die selbst von ihrer Heimatuniversität in Donezk flüchten musste, berichtete über das Leben und Überleben der Zivilbevölkerung in der Kampfzone.

Rundgang mit Ihor Kosyk (Historiker) der das Schicksal der jüdischen Gemeinde der Stadt in den Fokus rückte, zu der solche prominente Autoren wie Scholem Alejchem, Joseph Roth, Deborah Vogel oder Jerzy Lec gehörten. Die Informationen über die historischen Rahmenbedingungen wurden durch die Einlagen aus den literarischen Texten durch JProf. Roman Dubasevych ergänzt, wobei verschiedene Diskurse mit- und nebeneinander erklangen.

 

24.07.19

Der Ausflug in die ehemalige Grenzstadt der k. u. k.-Monarchie Brody, brachte die Teilnehmer*Innen zur Geburtsstätte von Joseph Roth und machte sie mit der polnischen Blütezeit dieser Region, verkörpert durch die Person des polnischen Kronenhetmans und „Befreiers von Wien“ Jan III Sobieski bekannt. Der Aufenthalt in Brody vermittelte auch ein Lebensgefühl einer ukrainischen Kleinstadt, die sich erst langsam nach dem rasanten wirtschaftlichen Niedergang infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion erholt. Nach dem Besuch des alten jüdischen Friedhofs von Brody und der Schlösser Pidhirci und Oles’k, an dem die Polnisch-Lektorin Karin Ritthaler- Praefcke einen kurzen Vortrag über Jan III Sobieski hielt, machte die Gruppe noch einen Abstecher in das nahe gelegene Dorf Sokolivka, in dem teilweise noch alte Bauernhäuser und typische Stettl-Architektur der jüdischen Geschäfte zu sehen war.

25.07.19

Ausstellungsbesuch mit Führung über die sozialistische Moderne im Zentrum der Stadtgeschichte Ost- und Mitteleuropas. Ausklang der Reise bei einem Abschiedsessen mit Ingolf Petzold, der über seinen beruflichen Werdegang vom Absolventen der Greifswalder Slawistik zum Vertriebsmanager eines ukrainischen Unternehmens berichtete.

Alle Orte haben mit ihrer Einzigartigkeit einen Betrag dazu geleistet, dass die unvoreingenommenen Teilnehmer*innen die Möglichkeit hatten, die Seminarinhalte mit eigenen Eindrücken von Land und Leuten zu verbinden und so eine kritische Urteilsbildung zu fördern. Das ist, gerade vor dem Hintergrund einer kriegerischen Auseinandersetzung, die die europäische Nachkriegsordnung erschüttert und zu einer polarisierenden Berichtserstattung geführt hat, besonders wichtig.

 

Verantwortliche der Exkursion:

JProf. Dr. Roman Dubasevych (Lehrstuhl für Ukrainische Kulturwissenschaft)

M.A. Tamara Münzer (Ukrainisch-Lektorat)